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Ägypten: Bericht eines Anarchosyndikalisten

Der in Kairo lebende anarchosyndikalistische Blogger Jano Charbel besuchte Köln am 17.10.2011 und berichtete über die Situation im Land. Die Lage nach der „Volksrevolution“ („popular revolution“) Anfang des Jahres beschreibt er als von der militärischen Konterrevolution bedroht. Die Massenbegegung mit Streiks und Platzbesetzungen sei jedoch eher bürgerlich-republikanisch als anarchistisch oder sozialistisch einzuschätzen.

Doch bei aller Angst vor einer Machtübernahme durch Islamist/innen geht die größte Bedrohung für den, auf eine politischen Systemwechsel zielenden Aufstand, momentan vor allem vom Militär aus. Der als Übergangsregierung herrschende Oberste Militärrat hatte von Anfang an die Proteste bekämpft, es wurden Angriffe aud Demonstrationen befohlen und es gibt Beweise für systematscihe Folter durch die Armee. Aktuell stehen etwa 12.000 Zivilist/innen vor den Militärgerichten, das zivile rechtssstem wird damit außer Kraft gesetzt.

Die Militärjunta ist außerdem bekannt für ihre konterrevolutionäre Propagana, wobei sie mit gezielten Falschinformationen versucht die rebellische Bevölkerung zu spalten, um die Revolution zu schwächen. Der Obertste Militärrat stehe für einen proto-faschistischen Ultranationalismus, der unter der Parole „Ägypten über alles“ Jagd auf Streikende und Demonstrant/innen macht, die mit ihren fortgesetzten Protesten angeblich die Errungenschaften der Revolution und damit die nationalen Interessen schädigen würden.

Die Aufstandsbewegung stehe daher vor der Aufgabe nach dem erfolgreichen Sturz des diktatorischen Präsidenten Mubarak nun seinen übrig gebliebenen Armeestaat zu überwinden. Der Militärrat häte eigentlich nach einem halbten Jahr die Übergangsregierung abgeben und freie Wahlen zulassen müssen, aber er zögert diesen Schritt weiterhin hinaus. Mittels des seit 30 Jahren geltenden Notstandsgesetzes geht die Armee weiterhin gegen Demonstrationen und Streiks mit aller Staatsmacht vor, Aktivist/innen und Journalist/innen werden durchsucht, geschlagen und verhaftet. Es wird befürchtet, dass dieser Zustand bis zu den auf das Jahr 2013 verschobenen Parlamentswahlen anhalten wird.

Auf eine Anklage wegen „Gefährdung der nationalen Wirtschaft“ drohen bis zu 83.000 US-Dollar Strafe, doch der zivile Ungehorsam, die Arbeitskämpfe und Protestversammlungen gehen trotzdem weiter. Viele Menschen im Land befürchten, dass die Militärregierung das alte Mubarak-Regime wiederherstellen will. Viele ehemalige Generäle stehen dem korrupten Präsidenten immernoch nahe, dessen Gerichtsprozess immer wieder aus gesundheitlichen Gründen hinausgezögert wird.

Aber die im Zuge des Arabischen Frühlings neu entstanden Institutionen einer Zivilgesellschaft, die sich für die Rechte der Staatsbürger/innen einsetzen, geben den Kampf nicht auf. Die während des Rückzugs der Polizei Anfang des Jahres spontan gegründeten Nachbarschafts- und Verteidigungskommittees, die die öffentiche Ordnung in den Stadtviertls und Dörfern aufrecht erhalten (und auch mit ungeahnter Effektivität die Müllabfuhr und Straßenreinigung übernommen hatten), haben sich nach der Stabilisierung der Staatsmacht wieder aufgelöst. Nicht alle Kommittees hatten einen revolutionären Anspruch und wollten garnicht den Staat ersetzen, sondern die Menschen schlossen sich aus Angst vor Plünderungen und unkontrollierter Straßengewalt zusammen – darunter auch viele Anhänger/innen Mubaraks.

Als ein Ergebnis der Aufstände hat sich der Unabhängige Gewerkschaftsbund gegründet, in dem sich etwa 200 Organisationen mit insgesamt rund 500.000 Mitgliedern zusammengeschlossen haben. Außerdem gibt es neune Bauernverbände mit etwa 10.000 Mitgliedern, die sich vor allem für den Zugang von ungenutzem Wüstenland für Kleinbäuer/innen einsetzen, aber auch aus größeren Landwirtschaftskooperativen bestehen. Eine Landreform, die bestehendes Eigentum neu verteilen würde, wird jedoch zur Zeit nicht diskutiert.

Diese Zusammenschlüsse von Arbeiter/innen in Stadt und Land sind momentan die größte Hoffnung für einen weiteren revolutionären Fortschritt, meint Jano Charbel, denn auf die parlamentarischen Parteien setzt er keine Hoffnung. Einige Teile der Bevölkerung glauben, dass mit politischen Reformen (wie einer Frauenquote im Parlament) die Errungenschaften der Massenbewegung formell abgesichert werden könnten. Doch es ist zu befürchten, dass solche oberflächlichen Korrekturen nur den wohlhabenden Geschäftsleuten dienen wird und nicht der von Armut und Arbeitslosigkeit bedrohten Mehrheit.

Die geplanten Wahlen könnten außerdem eine Regierung aus Mubarak-Anhänger/innen an die Macht bringen, zudem befürchtet wird, dass die bisherigen Tricks zur Wahlfälschung weiterhin eine tatsächliche demokratische Abstimmung verhindern könnten. Er habe daher keine Hoffnung auf den repräsentativen Parlamentarismus, denn nur durch eine basisdemokratische soziale Bewegung könnte ein Fortschritt entstehen. Dabei ist es interessant zu erfahren, dass in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens die Menschen heutzutage über die Zukunft der Revolution diskutieren, sogar in den Kindergärten.

Nach den Aufständen in Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien, Oman, Jemen, Mauretanien und Marokko, gebe es in den unterschiedlichen Ländern zwar viele Probleme, aber auch Hoffnung und Mut für eine Fortsetzung der gesellschaftlichen Kämpfe. Ein Erfolg des arabischen Frühlings in anderen Ländern würde den vom Militär unterdrückten Ägypter/innen neue Kraft geben. Schließlich seien alle arabischen Herrscher entweder Diktatoren, absolutistische Monarchen oder korrupte Geschäftsleute, die in der Bevölkerung einen schwindenden Rückhalt haben.

Vor allem das (von der Bundesregierung mit Aufstandsbekämpfungspanzern hochgerüstete) saudi-arabische Königshaus, verbreite konterrevolutionären Terror in der Region. Die Unterstützung der Scheichs für die salafistischen Islamist/innen, welche einen Gottesstaat errichten wollen, ist bekannt. In Ägypten hat sich ein Bündnis aus Muslimbrüdern, der Mitte-rechts-Partei und ehemaligen bewaffneten Islamkämpfern zusmmangefunden, die nun auf parlamentarischem Weg die Macht übernehmen wollen. Dafür seien sie trotz ihrer etwa eine Millionen Mitglieder aber noch nicht mehrheitsfähig genug, so dass die größere Bedrohung aktuell von der reaktionären Militärführung ausgehe.

Positive Impulse für eine soziale Revolution gingen Anfang Oktober aber von der ersten anarchistischen Konferenz in Ägypten aus, zu der sich libertär-sozialistische Aktivist/innen vor allem aus Kairo und Alexandria zusammengefunden hatten. Die Versammlung habe viele Interessierte angezogen, denn die Menschen seien auf der Suche nach anti-staatlichen Alternativen zum 1989 zusammengebrochenen Sowjetsystem. Mit dem Sturz Mubaraks sei es nun möglich über gesellschaftliche Utopien und praktische Widerstandformen öffentlich zu diskutieren.

Die wenigen anarchistischen Bezugsgruppen, die es bisher in Ägypten gebe, ständen sich zwar inhaltlich nahe, aber seinen in persönliche Streitigkeiten verwickelt, berichtet Jano Charbel. Nur einige wenige Nachbarschaftskommittees hätten nach der Übergabe der Macht an das Militarregime sich nicht aufgelöst und organisieren jetzt Arbeitslosenunterstützung. Es gebe aber Pläne für verstärkte Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung der Basisinitiativen in den Großstädten Alexandria und Kairo. Dabei sei es aber wichtig, international über die Situation im Land aufzuklären und um Unterstützung vor allem der freiheitlich-sozialistsichen Gruppierungen zu werden. In diesem Sinne ist die Europa-Rundreise des sich als Anarchosyndikalist verstehenden Bloggers zu verstehen, die – zumindest in Köln – zu einer interessanten Diskussion nach einem informativen Vortrag geführt hatte.


Weitere Informationen finden sich auf seinem Blog http://she2i2.blogspot.com


Anarchosyndikat Köln/Bonn

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